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LLLL

LLLL = Lange Lange Lese Liste


Martin von Arndt
Tage der Nemesis


Martin von Arndt
Oktoberplatz



Immo Sennewald
Raketenschirm


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Steve Sem-Sandberg
Die Elenden von Łódź

6
Mrz
2013

haiku 62

haiku 62

verschleierter fluss
schmeichelnd wirbt flüsternd ein pfaff
die wildgans kehrt heim

jbs 2ooodreizehn

29
Dez
2012

haiku 52

Winterstimmung-am-Ploener-See-Nov-2010
Aufnahme: BJ


die welt löst sich auf
hinter seebrücken aus eis
zieht zimt im glühwein

jbs

28
Dez
2012

...

Das Brot
von Wolfgang Borchert


Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küche. Es war still. Es war zu still, und als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer. Das war es, was es so besonders still gemacht hatte; sein Atem fehlte. Sie stand auf und tappte durch die dunkle Wohnung zur Küche. In der Küche trafen sie sich. Die Uhr war halb drei. sie sah etwas Weißes am Küchenschrank stehen. Sie machte Licht. Sie standen sich im Hemd gegenüber. Nachts. Um halb drei. In der Küche. Auf dem Küchentisch stand der Brotteller. Sie sah, dass er sich Brot abgeschnitten hatte. Das Messer lag noch neben dem Teller. und auf der Decke lagen Brotkrümel. Wenn sie abends zu Bett gingen, machte sie immer das Tischtuch sau-ber. Jeden Abend. Aber nun lagen Krümel auf dem Tuch. Und das Messer lag da. Sie fühlte, wie die Kälte der Fliesen langsam an ihr hoch kroch. Und sie sah von dem Teller weg. "Ich dachte, hier wäre was", sagte er und sah in der Küche umher.

"Ich habe auch was gehört", antwortete sie, und dabei fand sie, dass er nachts im Hemd doch schon recht alt aussah. So alt wie er war. Dreiundsechzig. Tagsüber sah er manchmal jünger aus. Sie sieht doch schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt aus. Aber das liegt vielleicht an den Haaren. Bei den Frauen liegt das nachts immer an den Haaren. Die machen dann auf einmal so alt. "Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß auf den kalten Fließen. Du erkältest dich noch." Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, dass er log. Dass er log, nachdem sie neunundreißig Jahre verheiratet waren - "Ich dachte, hier wäre was", sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke in die andere, "ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wäre was." "Ich hab auch was gehört. Aber es war wohl nichts." Sie stellte den Teller vom Tisch und schnippte die Krümel von der Decke. "Nein, es war wohl nichts", echote er unsicher.

Sie kam ihm zu Hilfe: "Komm man. Das war wohl draußen. Komm man zu Bett. Du erkältest dich noch. Auf den kalten Fließen."
Er sah zum Fenster hin. "Ja, das muss wohl draußen gewesen sein. Ich dachte, es wäre hier."
Sie hob die Hand zum Lichtschalter. Ich muss das Licht jetzt ausmachen, sonst muss ich nach dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen. "Komm man", sagte sie und machte das Licht aus, "das war wohl draußen. Die Dachrinne schlägt immer bei Wind gegen die Wand. Es war si-cher die Dachrinne. Bei Wind klappert sie immer." Sie tappten sich beide über den dunklen Korridor zum Schlafzimmer. Ihre nackten Füße platschten auf den Fußboden. "Wind ist ja", meinte er. "Wind war schon die ganze Nacht." Als sie im Bett lagen, sagte sie: "Ja, Wind war schon die ganze Nacht. Es war wohl die Dachrinne."
"Ja, ich dachte, es wäre in der Küche. Es war wohl die Dachrinne." Er sagte das, als ob er schon halb im Schlaf wäre. Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log. "Es ist kalt", sagte sie und gähnte leise, "ich krieche unter die Decke. Gute Nacht." "Nacht", antwortete er noch: "ja, kalt ist es schon ganz schön."
Dann war es still.

Nach vielen Minuten hörte sie, dass er leise und vorsichtig kaute. Sie atmete absichtlich tief und gleichmäßig, damit er nicht merken sollte, dass sie noch wach war. Aber sein Kauen war so regelmäßig, dass sie davon langsam einschlief. Als er am nächsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte er immer nur drei essen können.
"Du kannst ruhig vier essen", sagte sie und ging von der Lampe weg. "Ich kann dieses Brot nicht so recht vertragen. Iss doch man eine mehr. Ich vertrage es nicht so gut." Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte.
Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er ihr leid.
"Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen", sagte er auf seinem Teller.
"Doch, abends vertrag ich das Brot nicht gut. Iss man. Iss man."
Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch.

In W.B.: Das Gesamtwerk. Mit einem biograph. Nachw. Von Bernhard Meyer-Marwitz.
Hamburg: Rowohlt, 1949. S. 304-306. © 1949 Rowohlt Verlag, Hamburg.

23
Dez
2012

Wir haben nur diese eine Erde

Es gibt zwar viele Welten, viele Sonnen - aber wir haben nur diese eine Erde.

Allen meinen Lesern und Leserinnen wünsche ich harmonische und gesunde Stunden zum Jahreswechsel!

Seit den letzten Weihnachtsfesten hat sich nichts verändert, was Musik und Lyrik auf diesem Blog an diesen Tagen anbelangt. Deshalb poste ich auch heute wieder "Brother in Arms".

Weihnachten-2008-053

Mark Knopfler – Brothers in arms

Diese nebelverhangenen Berge sind jetzt mein Zuhause.
Aber meine Heimat ist da unten,
im flachen Land – dort wird immer meine Heimat bleiben.
Irgendwann werdet ihr zurückkehren,
in eure Täler und auf eure Höfe,
und werdet nicht mehr darauf brennen,
Waffenbrüder zu sein.

Ich habe euer Leid gesehen,
hier, auf den Schlachtfeldern
habe ich eure Feuertaufe erlebt.
Und als die Schlacht heftiger wurde,
als ich schwer verwundet wurde,
in all diesem Schrecken und in der Gefahr
seid ihr mir beigestanden.
Ihr, meine Waffenbrüder.

Es gibt zwar viele Welten, viele Sonnen -
aber wir haben nur diese eine Erde.
Und doch ist es so, als lebten wir
in verschiedenen Welten.

Die Sonne ist zur Hölle gefahren,
und der Mond steigt auf.
Lasst mich Euch Lebewohl sagen.
Jeder Mensch muss sterben.
Aber es steht in den Sternen geschrieben,
und in jeder Linie in euren Handflächen:
Wir sind Narren, wenn wir Krieg führen
gegen unsere Brüder.

http://www.youtube.com/watch?v=6FlIsdA-JBk

16
Dez
2012

Oktoberplatz

Archivarisches IV

Oktoberplatz

Wahrlich meisterhaft geschrieben!

Martin von Arndt erzählt in seinem neuen Roman „Oktoberplatz“ eine äußerst spannungsreich auskalkulierte Story über die politische Entwicklung Weißrusslands und charakterisiert dessen Hintergründe souverän. Und das Ganze in seiner so typischen Art und Weise, Prosa lyrisch zu untermalen. Und von Arndt wäre nicht von Arndt, würde er nicht wieder einen tragischen Helden für seine Geschichte auswählen.
Wasil Mikalajewitsch prägt diese Rolle und der Autor nimmt den Leser mit nach Hrodna, dem Städtchen im Belarus, in dem Wasil 1974 geboren wird. Er wächst dort mit drei, fast gleichaltrigen, Tantchen auf, mit denen er nacheinander in inzestuösen Verhältnissen leben wird. „Skandal“ möchte man anfangs meinen. Was für ein „Skandal“. Nicht nur einen Mord an eine der Tanten klügelt er aus, nein, er stürzt sich auch noch in sexuelle Abhängigkeiten.

Nachdem seine engste Bezugsperson, der Großvater Istvan, wegen abnormen Alkoholkonsums tödlich verunglückt, die Familie nach der Bestattung eine Neuorientierung sucht, findet Wasil in einem Garagenversteck das Vermächtnis seines Vaters: „ … eine so große Summe Devisen, dass ich, für diesmal, nicht nur eine Augenbraue hob. Dann lag da noch ein Zettel, auf den Vater in Großbuchstaben geschrieben hatte. 'Mach was aus deinem Leben. Am besten hau ab von hier'.“

Wasil's Gedanken fangen an „wie in einem Elektronenbeschleuniger die Arbeit aufzunehmen“ und er stellt 1999 nach einer unruhigen Nacht fest: „Ich war siebzehn Jahre alt. Ich war frei. Und das Land meiner Geburt hatte aufgehört zu existieren.“

Er wird abhauen. Immer auf der Suche nach Heimat, Bodenständigkeit und Freiheit in den wirren Zeiten der Neuorientierung von Belarus und den postsowjetischen Nachbarstaaten.

In diesen Monaten übernimmt ein autokratischer Präsident die Regierungsarbeit und die Menschen im Belarus müssen sich, nachdem das Weißrussische schon von Stalin unterdrückt wurde, erneut einer Diktatur stellen.
Genau in dieser Zeit reist Wasil nach Ungarn aus, in das Land seiner Vorfahren. Auf dem Paßamt in Hrodna will der Beamte der Regierungsbehörde OWIR kein Verständnis für die Ausreise aufbringen, denn „ Jetzt wird hier endlich unsere Sprache gesprochen … und da kommen Sie daher, ein junger Mensch, und wollen weg.“
Seine Ausreise fällt in die zaghafte Wiedergeburt der weißrussischen Sprache, die, wie oft gedacht, kein Dialekt, sondern wie das Ukrainische, eine eigene ostslawische Sprache ist und als fast ausgestorben angesehen werden konnte. Russisch gilt als erste Amtssprache. Aber das interessiert Wasil nicht. Er ist ein Heimatsuchender, ein für die „Hiesigen kein Hiesiger.“

Wasil „ … kehrte zurück zu Großpapa, in Großpapas Land. Wie meine Landsleute: Alle kehrten wir zurück zu unseren Großvätern, Nur daß die anderen Belarussen das Land nie verließen, es kam einfach zu ihnen. Es kam über sie. Und die meisten haben es nicht einmal gewollt.“

Metaphern auf die politisch-geschichtlichen Hintergründe der sogenannten Präsidialrepublik Weißrusslands finden sich immer wieder, schon ganz zu Beginn des Romans, wenn von Arndt Zeilen aus der Songlyrik der russischen Musikband N.R.M.: „Drei Schildkröten“ zitiert:

„ Wenn du in der Kommunalka ( Gemeinschaftswohnung)
plötzlich die Ausdünstungen riechst
Und dich das Leben in den Schwitzkasten nimmt
Wirst du verstehen, daß nach wie vor
Drei Schildkröten diese Welt ziehen.
Warte nicht ab, es wird keine Überraschungen geben.“


Ein Bild will sich dann nach dem Lesen öffnen: Eine schildkrötenhaft langsame Entwicklung von politischen Troikas postsowjetischer Staaten. Stillstand von Entwicklungen nicht ausgeschlossen.

Oder eine Dreiecksgeschichte. Drei Schildkröten. Drei Republiken. Drei Tanten. Jede steht für ein Land. Marya für Polen, Tatsiana für Ungarn, Alezja für Belarus.
Und mittendrin der Antiheld Wasil Mikalajewitsch.
Aber zum Ende des Romans hin, lösen sich diese Interpretationsansätze in Luft auf. Denn ab Seite 219 taucht ein Gedicht von Thomas Wolfe aus „Tod, der stolze Bruder“ auf, welches als Schlüsselszene zum gesamten Werk angesehen werden kann.

„Sie kommen,
meine großen dunklen Pferde kommen!
Mit dem sachten und rauschenden Innern ihrer Hufe.
Die Pferde des Schlafs galoppieren,
galoppieren über das Land.“

Über diese Verse kommen sich Wasja und seine jüngste Tante Marya sehr nahe. Seelenverwandtschaft trifft den Kern. Wasja steht ab dem Zeitpunkt endgültig einem Wendepunkt in seinem Leben gegenüber. Er muss sich entscheiden.
Von da an überschlagen sich die Ereignisse. Wasja schreckt nicht zurück, einen Mord zu planen. Ein mitreißender Schluß.

Martin von Arndt hat mit diesem Roman erneut gezeigt, was für ein grandioser Erzähler er ist. Mit einer unglaublich farbigen, lyrischen und suggestiven Sprache beschwört er wunderbar poetische Bilder vor das Auge des Lesers, man möchte einzelne Textstellen ständig wiederholen.
Ein Lesegenuss!

jbs
22.Mai 2ooozwölf

Buch und Verlag:
http://www.vonarndt.de/pdf/oktoberplatz-vorschau.pdf

Trailer zum Buch:
http://www.youtube.com/watch?v=Mnj3frt9okc

Bucherwerb:
http://www.amazon.de/Oktoberplatz-Meine-gro%C3%9Fen-dunklen-Pferde/dp/3863510232/martinvonarndt

30.05.2012 nachgereicht:
Deutschlandfunk-Büchermarkt. Lerke von Saalfeld - Martin von Arndt - Ein Interview

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/1769330/

Die kursiv geschriebenen Textstellen sind Zitate aus dem Buch "Oktoberplatz"

13
Dez
2012

eisblumenmembran

Archivarisches III

Winterstimmung-am-Ploener-See-Nov-2010
Aufnahme: BJ


eisblumenmembran

seltsame geheime klänge,
tönen an
dein ohr

peitschende risse summen, fügen
unter pfahlbauten
ein motiv

fast
synthetisch modelliert kälte
surreale weisen
lieder
die in der ferne
verweilen, erstarren
schmelzen

dein blick
entdeckt eine ära, die sich
im nu des orbits
versenkt

und mein finger
zeichnet hurtig den eisblumen nach,
bevor sie
verduften

(c)
jbs 2ooozwölf

4
Dez
2012

Archivarisches II ...

Blick vom Turm

Der Roman „Blick vom Turm“ von Immo Sennewald erschien im Salierverlag 2008.

Blick-vom-Turm

Buchbesprechung vom 31.08.2010

Zwölf Sätze lang fliegt der Leser auf der ersten Seite mit Gustav Horbel beschwingt durch die Lüfte, bevor ein klatschendes Lineal vor den Fingern Horbels ihn und den Leser aus einem Tagtraum reisst.
Und schon befindet man sich mittendrin im gesellschaftlichen Geschehen der DDR im Sommer 1968.
Der Autor Immo Sennewald entrollt auf 389 Seiten die Sommergeschichte eines verträumten Abiturienten. Mit Mutter und „Omma“ lebt dieser in der fiktiven thüringischen DDR-Ortschaft Lauterberg.
Mit Elementen eines Tagebuchromans gelingt Sennewald ein gelungenes Zusammenspiel mit Elementen aus Gesellschaftsportait, Charakterportrait, Lebensgeschichte und Jugenderinnerungen.
Der Leser spürt mit Hilfe der Tagebucheintragungen einer weit zurückliegenden Liebesgeschichte nach, die sich im Laufe der Erzählung zu einem Krimi entwickelt.

Hinzu kommen mehrere Nebenschauplätze, die ihren Vorhang zu einem kleinen Welttheater öffnen, das aus dieser Zeit ein ernstes und trauriges Stück DDR-Zeitgeschichte festhält.

Szenen, die ein Schmunzeln auslösen, manchmal sogar ein Lachen oder Schadenfreude beim Leser herrufen findet man aber auch, z.B. auf den Seiten 311 bis 312, in der ein wichtiger Freund von Gustav Horbel im Halbschlaf voller Panik an eine zurückliegende Nacht denkt, die ihn mit einer „monströsen Frauenfigur mit dem Damenbart“ zusammengeführt hatte. Da der Leser die Vorgeschichte des Freundes auf diesen Seiten schon kennt, kann Schadenfreude einfach nicht ausbleiben.

Einzig und allein empfand ich manch ausführlichen Tagebucheintrag zu langatmig, doch zum Verständnis der alten Liebesgeschichte gehören sie dazu.

Sennewald gelingt im „Blick vom Turm“ eine gelungene Orchestrierung. Das Zusammenspiel seiner gegensätzlichen Charaktere macht den Weg frei für eine einmalige Erzählung, die zwischen der beängstigenden Überwachung und Umklammerung der damaligen DDR - Bürger und den verträumten Wünschen eines Heranwachsenden schwankt.

Lesen?
Lesen!

29
Nov
2012

Archivarisches ...

Im lou-salome-Archiv gekramt und gefunden:

Istrien-2008-475-
jbs
pula 2oooacht


„Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“
Franz Kafka

Philippe Claudel, Jahrgang 1962, ist ein französischer Schriftsteller. 2006 erschien von ihm das Buch „ Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung“ im Rowohlt Verlag.

Zuerst ist man verwirrt, da „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ von Eric Emmanuell Schmitt längst Eingang in unseren Kopf bekommen hat - und nun ein fast gleicher Buchtitel?
Im Original heißt der Roman von Philippe Claudel „ La petite fille de Monsieur Linh“ ( „Die Enkeltochter des Monsieur Linh“).
Es liegt nahe, dass aus verkaufstaktischen Gründen der französische Buchtitel nicht für den deutschen Buchmarkt übernommen wurde.

Die Geschichte erzählt von einem Greis aus asiatischem Raum, der mit seiner erst ein paar Wochen alten Enkelin als Flüchtling nach Frankreich kommt. Völlig geruchlos empfindet er diese Welt, in der er sich zurecht finden muss, weil er für seine kleine Enkelin aus der zerbombten Heimat geflohen ist.
Schon nach drei Seiten ( auf Seite 10 des Buches) erahnt der Leser, auf was er sich emotional einlassen wird:

„ Der alte Mann ist losgelaufen. Außer Atem ist er beim Reisfeld angekommen, von dem nur noch ein riesiges, mit plätscherndem Wasser gefülltes Loch übrig war, und am Rand des Kraters lag der aufgerissene Kadaver eines Büffels. Sein Joch war zerknickt worden wie ein Strohhalm. Dort fand er auch die Leichname seines Sohnes und dessen Frau sowie, ein paar Schritte weiter, die Kleine, mit weit aufgerissenen Augen, in Windeln gewickelt, unversehrt, und neben ihr eine Puppe, ihre Puppe, so groß wie sie selbst, der eine Explosion den Kopf abgerissen hatte. Das kleine Mädchen war zehn Tage alt. Ihre Eltern hatten sie Sang diû genannt, was in der Sprache ihres Heimatlandes >> süßer Morgen << bedeutet.“

Monsieur Linh fühlt sich leer, einsam und entwurzelt. Nur die Gegenwart seiner Enkelin und die damit verbundene Aufgabe, ihr jeden Tag einen neuen Morgen zu zeigen, hält ihn am Leben.
Nach anfänglicher Zurückgezogenheit inmitten seiner Leidensgenossen in einem Flüchtlingsheim, fasst er Mut und geht auf die Straße zum Spazieren gehen. Immer mit Sang diû auf dem Arm.
So vergehen viele Wochen im gleichen Trott, Monsieur Linh lernt „seine“ Straße immer besser kennen, aber die Einsamkeit, trotz Enkelin, bleibt. Gegenwärtige Alltagsbilder, die er bei seinen Spaziergängen beobachtet, vermischen sich mit Erinnerungen aus seiner Heimat.

„ Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, drängen sich zahllose Familien am Eingang des Parks, andere kommen heraus. Die beiden bunten, lärmenden Ströme fließen ineinander und bilden große Strudel wie jene, die man in der Regenzeit im Fluss der Schmerzen unweit des Dorfes sieht.
Der Fluss heißt so, weil der Legende nach ...“ Seite 45.


Und dann kommt der Tag, der das Leben von Monsieur Linh erneut verändern wird. Er lernt Monsieur Bark kennen. Einen großen kräftig gebauten Franzosen, der von Statur her das Gegenteil vom klapperdürren Linh ist. Während Bark eine Zigarette nach der anderen raucht, erzählt er Monsieur Linh vom Tod seiner Frau, vom Leben ohne sie und ohne Kinder, von seinem Einsatz als Soldat in (wahrscheinlich) Indochina und die damit verbundenen Greueltaten. Monsieur Linh versteht nicht ein Wort der fremden Sprache, aber er spürt die Wärme, die von der anfangs noch unbekannten Person ausgeht. Und so entwickelt sich eine intensive Freundschaft zwischen den beiden Männern, die auch nicht aufhört, als Monsieur Linh von den Behörden abgeholt wird und in ein am Stadtrand gelegenes Altenheim gesteckt wird.

Von dort versucht Monsieur Linh auszubrechen, was ihm aber erst nach einem missglücktem Versuch gelingt.
Die Erzählung läuft am Ende auf ihren Höhepunkt zu, in dem der Greis mit seiner Enkelin auf der verzweifelten Suche nach seinem Freund Bark durch die riesige Stadt irrt, ihn zum Schluß dann tatsächlich auf der Straßenseite endeckt, auf der ihre gemeinsame Bank steht, die ihnen wochenlang als Treffpunkt gedient hatte.
Philippe Claudel lässt seine Erzählung mit einer gelungenen Schlußpointe enden.


Man könnte meinen, manche der vorangegangenen Rezensenten haben nicht ganz Unrecht, wenn sie in ihrer Kritik die manchmal kitschig anmutenden Szenen erwähnen. Leider kann ich zu wenig französisch, ich hätte das Büchlein nämlich dann in der Sprache gelesen, in der es entstanden ist. Ich bin mir sicher, dass die Übersetzung nicht ganz glücklich verlaufen ist und somit könnte tatsächlich obig beschriebener Eindruck erweckt werden.
Aber Beschreibung von Krieg und Massakern kann nie kitschig sein, nur aufs Äußerste tragisch.
Länder-oder Städtenamen werden übrigens nie genannt und doch wird dem genauen Leser das Massaker von My Lai vom 16. März 1968 vor Augen geführt.

Philipp Claudel's Sprache ist einfach und klar. Aber auch raffiniert. Eindrücklich erzählt er von einem im Herzen zutiefst verletzten Menschen, der nach schlimmsten Kriegserlebnissen entwurzelt wird und trotzdem die Hoffnung nicht verliert, weil ihm die Sorge um das Enkelkind Grund gibt, weiterzuleben.
Mit den >>Großen Gefühlen, wie Tod und Trauer, Verzweifelung, aber auch Fürsorge, Freundschaft und Liebe<< beschreibt Claudel die Großvaterrolle und die Freundschaft zwei alter Männer.

Claudel's kleines literarisches Werk gehört in die Reihe von Alessandro Barrico's „Seide“ und „Novecento“ sowie Eric Emmanuell Schmitt's „Die Dame in Rosa“ und „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“.

Wenn sich der Verlag für eine andere Umschlaggestaltung entschieden hätte, dann wäre alles rund gewesen.
jbs 2010


Das letzte Zitat ist aus:
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/532796/
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"Vielleicht war vor den Lippen schon das Flüstern da und ohne Bäume tanzte schon das Laub."Ossip Emiljewitsch Mandelstam

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