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20
Jan
2012

Der Gesang der Schneckenhäuser

„Der Gesang der Schneckenhäuser“ ein Roman von Marion Tauschwitz
erschienen 2011 im Verlag André Thiele, 209 Seiten

Vorgedanken zum Buch


Es gibt Themen, mit denen sich der Mensch nicht sehr gerne beschäftigt. Er grenzt deshalb unangenehme oder unerlaubte Gefühle aus seinem Bewusstsein aus, er verdrängt sie. Er schützt sein Ich mit Verdrängung vor Unbehagen oder Angst.

Ein mit Abscheu und Angst einflößendes Thema ist die sexualisierte Misshandlung an Menschen.

Aktuell und brisant wurde vom Fall des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Jörg Tauss im Jahr 2010 in der Öffentlichkeit berichtet. Beim ehemaligen SPD-Politiker Tauss wurde in seiner Privatwohnung belastendes kinderpornografisches Material gefunden. Anfängliche subtile Verdrehungen der Bericht erstattenden Medien sorgten für hochemotionale Reaktionen, denn tausende Kinder in Deutschland werden jährlich Opfer von sexualisiertem Missbrauch.
Diese Kinder finden häufig keine Hilfe, u.a. auch, weil viele Erwachsene wegsehen oder sich gelähmt fühlen, sich dem Unfassbaren entgegenzustellen. Abhängig und ausgenutzt bleiben kleine Seelen dem abnormen Treiben Erwachsener ausgeliefert.
( Wo kann Hilfe gefunden werden?: „Keine Gewalt gegen Kinder“ - Links am Ende dieser Buchbesprechung).

Kann die Gesellschaft dagegen steuern?
Ja! Sie kann!
Möglichkeiten bestehen u.a. aus Verbreitung von Wort und Schrift.

Eine zeitgenössische Schriftstellerin aus Heidelberg hat diesen Schritt unternommen. Sie öffnet den Einblick in eine fremde Welt, vor der gefürchtet und auf die abwehrend reagiert wird, weil moralische und ethische Grenzen überschritten werden.


Fremdbestimmte Charaktere

In poetischer Sprache entwirft die Autorin Marion Tauschwitz das Bild einer jungen hübschen Frau, die durch die Heirat eines wohlhabenden Mannes vermeintlich aus der Enge ihres Alltages erlöst wird. Zu spät erkennt sie, welch ein perfides Spiel dieser Mann mit ihr treibt und ein zukünftiges Leben schmiedet, das er für seine abnormen Vorstellungen benutzen wird. Was als Traum, als ein Märchen begann, endet tragisch.

Ihre Beine strampelten ins Leere. Ihre Schreie dämpften das Tuch. Dann lag sie da wie tot.
>> Die Mutter meiner Tochter ist keine Nutte. Du bist keine Nutte.>>
Roh und rhythmisch rammte er ihr die Worte in den Leib.
>> Keine Nutte! Keine Nutte!<<
Hemmungslos wütete er in ihr, bis er schluchzend und zitternd auf ihr zusammensackte. Mariefleure lag starr und unbeweglich. Schmerz und Schock lähmten sie.

Nächtelang lag Mariefleure wach und drehte und wendete die Worte, die sie noch mehr verletzt hatten als der barbarische Überfall selbst: >> Nur dazu bist Du gemacht. Nur dazu habe ich Dich gebraucht.<<
Er hatte sie nie begehrt, sondern als Brutofen für seine Tochter missbraucht.


Erschreckende, beklemmende Szenen wie obig zitierte, streut die Autorin jedoch sparsam in ihrem Roman ein. Die Geschehen werden in der Regel nicht explizit dargestellt. Marion Tauschwitz arbeitet mit Auslassungen, die die Ausgestaltung der Vergewaltigungen der Imagination des Lesers überlässt. Es genügt, dass Serge zum Diner mit seiner minderjährigen Tochter eine weiße Lilie auf den Tisch stellt, der Champagner in den Gläsern perlt und im Bad besinnliche Düfte überschäumen, bevor es zur äußeren und inneren Reinigung, laut des Vaters, kommt. Isabelle blickt zu aufgereihten Schneckenhäusern auf der Glaskonsole im Bad, in die sie hineinkriecht, sich einen Schutzwall für die kommenden schrecklichen 10 Minuten aufbaut - diese Bilder reichen aus.

Serge charismatische Ausstrahlung täuscht fast alle Personen, die mit ihm in Kontakt kommen. Sei es anfangs die Bordellbesitzerin Luzifer oder später die Hausangestellten oder die Lehrer an Isabelle's weiterführenden Schule. Sobald in Serge der Verdacht keimt, diese Menschen fangen an zu ahnen, was sich im engeren familiären Umfeld abspielt, entlässt er sie oder gibt sich als großzügiger Spender aus. Luzifer, die Jahre später einen Versuch unternimmt, ihren ehemaligen Zögling Mariefleure alias Laura wiederzutreffen, wird von ihm regelrecht abgefertigt …

„Die Episode mit „Verona“ ist abgeschlossen. Und damit möchte ich die Bekanntschaft mit Dir nicht weiter pflegen. Muss ich noch direkter werden?“

Damit langen die sparsamen Beschreibungen der Nebenakteure in diesem Roman. Es ist nicht notwendig, mehr über sie zu erfahren, denn Serge führt mit Mariefleure und Isabelle ein sehr zurückgezogenes Leben, fast in Einsiedelei, da niemand Einblick in sein teuflisches Treiben erhalten darf. Deshalb reicht die relativ farblos dargestellte Beschreibung der Nebendarsteller ( im Gegenzug: fein gezeichnete Charaktere der Protagonisten), sie müssen sich im Verlauf der Geschichte auflösen, um die Einsamkeit um Mariefleure und Isabelle zu verstärken.

Eine einzige Person bekommt Serge's kriminelle Energie dann doch zu spüren. Es ist ein älterer, etwas debiler ehemaliger Fischer, der in nächster Nachbarschaft zu den Montrudiers am Meer lebt. Liebevoll bestimmt die Autorin seine Rolle. Sein Außenseiterleben kann ihn allerdings nicht vor der Fremdbestimmung durch Serge schützen. Die eingebauten „Finde“-Szenen gefallen mir im gesamten Kontext besonders. Jannick, der alte Seemann, hat ein tagesfüllendes Hobby. Er sammelt besondere Steine am Strand, Hühnergötter, Feuersteine, gibt ihnen je nach Form und Ausstrahlung einen Namen, um sie danach in einer Felsengrotte aufzustellen. Tauschwitz baut in diesen Kapiteln wunderbare Metaphern ein, so zum Beispiel der Fund eines herzförmigen schwarzen Steines. Oder ein taubenähnlicher Stein mit einem Blutstropfen in Herznähe. Als Leser spürt man Yin, Yang und Fengshui, ist man mit Jannick unterwegs.


Verdrängung und Imagination

„Es hatte zehn Minuten gedauert. Eine Minute fühlt 60 Sekunden. Zehn Minuten schmerzen 600 Sekunden lang. Was sind 600 Sekunden gegenüber 86 400 des Tages? Was sind 10 Minuten gegenüber 1440 Minuten eines Tages.“

Diese 10 Minuten, in regelmäßigen Abständen auf Tage, Wochen, Monate und Jahre verteilt, sind für Isabell der Inbegriff der Hölle. Unbewusst greift sie zu Selbstschutzmechanismen, um das perfide sexuelle Treiben des bis dahin heiß geliebten Vaters, auszuhalten. Sie gleitet in eine andere Daseinsform, zieht eine Maske über das entsetzliche Geschehen, indem sie in die von der Mutter geerbten Schneckenhäuser schlüpft. Seit dem unerklärlichen Verschwinden der Mutter führt sie diese zerbrechlichen Schalen mit sich herum, um in Momenten von auswegloser Hilflosigkeit den dort innelebenden Gesang zu entlocken, den ihr die Mutter viele Jahre zuvor hinter den Windungen und Biegungen der Gehäuse mit einem Kuss versiegelt hatte. Akustisch-imaginär lässt sich Isabell in diesen 10 Schattenminuten in ihrer Vorstellung an einen guten sicheren Ort bringen, lässt sich vom Gesang der Schneckenhäuser trösten. Diese Imagination hilft ihr, aus der Hilflosigkeit, dem Vater sexuell ausgeliefert zu sein, herauszukommen.

Alltags leben Vater und Tochter in einem überbordendem Wohlstand, der sich insbesondere durch exquisite Menüs, weite Reisen, herrschaftlichen Häusern, Pferden und großzügigen Sozialspenden auszeichnet. Das gesellschaftliche Umfeld käme nie auf die Idee, in der Person Serge du Montrudier einen Kinderschänder zu sehen. Die Maske des Wohltäters und überbesorgten Vaters sitzt perfekt und täuscht selbst professionelle Mitarbeiter des Jugendamtes, die auf einen Hinweis einer ehemaligen Hausangestellten Isabelle aufsuchen, um nach dem Rechten zu sehen.


Thrillerähnlicher Plot

Der emotionale Konflikt, der sich zwischen Vater und Tochter entfaltet, steigert sich von Kapitel zu Kapitel. Die Spannungskurve nimmt ihren Anfang mit Laura, die einige Jahre nach der Geburt ihrer Tochter Isabelle plötzlich wie vom Erdboden verschwunden ist. Der Leser spürt, dass es zum Romanende hin zu einer Auflösung kommen wird, muss!, viel zu intensiv werden imaginäre Tochter-Mutter-Bilder eingestreut. Fast scheint für Isabelle alles verloren, als eine Wendung für sie eintritt. Mit Hilfe eines Studienkamerades kann sie sich letztendlich aus der Umklammerung des Vaters befreien, wenn auch mit einem tragischen Ende.


Leseeindruck

Mit fast hypnotisierender Sprachmelodie hat mich die Autorin Marion Tauschwitz in ihrem neuen Roman "Der Gesang der Schneckenhäuser" auf eine Reise mitgenommen, deren Spannweite von kulinarischer Üppigkeit, über schöngeistigen Dingen bis hin zum Kindesmissbrauch reicht. Mit der Täter-Opferrolle und deren psychische Dynamik führt die Autorin den Leser souverän, behutsam und sensibel durch eine Welt der psychischen Abgründe. Feinst gezeichnete Charaktere schweben von Seite zu Seite, man befindet sich in einem Sog und entkommt dem nur, wenn man endlich die letzte Seite gelesen hat und das Buch zur Seite legen kann. Dieser Roman, dessen Plot Merkmale eines Psychothrillers aufweist und der mich beim Lesen immer wieder an Daphne du Mauriers "Rebecca" erinnerte, ist ein faszinierendes Buch, jedoch, die Nachdenklichkeit, die sich eingeschlichen hat, begleitete mich einige Zeit.

jbs 2012

Anmerkung zum Schluss:
Dieses Buch ist auch ein Bilderbuch der Metaphern. Wirklich gelungen!

Parallellektüre:

In meinen Augen lässt sich obig besprochener Roman, der äußerst lebensnah geschildert ist, nicht nur in die Reihe von Daphne du Mauriers „Rebecca“ stellen. Auch Buchi Emecheta „Zwanzig Säcke Muschelgeld“ und „Kehinde“ sowie von Saliha Scheinhardt „Frauen, die sterben, ohne dass sie gelebt hätten“ oder „Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen“ von Hannah Green usw. gehören dazu und ihnen sollte Aufmerksamkeit geschenkt werden.


Das Buch „ Der Gesang der Schneckenhäuser“

http://www.vat-mainz.de/buecher/belletristik/tauschwitz-schneckenhaeuser.php

http://www.amazon.de/Gesang-Schneckenh%C3%A4user-Roman-Marion-Tauschwitz/dp/394088457X


Hilfe kann u.a. hier gefunden werden:

gegen-missbrauch e.V.
http://www.gegen-missbrauch.de/

Deutscher Kinderschutzbund:
http://www.dksb.de/CONTENT/SHOWPAGE.ASPX?CONTENT=461&TPL=0

Siehe Gesetzestext aus dem Strafgesetzbuch:
http://dejure.org/gesetze/StGB/176.html


Stichworte: sexualisierter Missbrauch – Waschzwang – Abwehrmechanismus - Verdrängung – Thrillerelemente – Wohlstandsgesellschaft – Imagination
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"Vielleicht war vor den Lippen schon das Flüstern da und ohne Bäume tanzte schon das Laub."Ossip Emiljewitsch Mandelstam

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Zuletzt aktualisiert: 26. Mai, 22:16

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