Schwarze Flut
Aus meinem Textarchiv 2ooosechs
Schwarze Flut
Langsam rutscht mir die Spritze aus der Hand. Den Aufprall auf kalten Fliesen nehme ich nicht wahr.
Der Wassertopf auf dem Herd brummt vor sich hin und die Funkuhr läuft still ihrer eingestellten Zeit entgegen.
Hektik, ständige Anspannung, Einengung, so nennen sich meine treuen Begleiter des Alltages. Aber jetzt kann ich endlich loslassen.
Aufatmen.
Schlafen.
Träumen.
Unsichtbare Kräfte zerren an mir, tragen mich hinaus durch das geschlossene Fenster Richtung Stadtmitte. Die rosa Wolke unter mir schmeckt nach Zuckerwatte. Und duftet nach Jahrmarkt. Ich drehe mich auf den Bauch und kann nun das Treiben unter mir genau beobachten.
Hochhäuser, Baulücken, aufgeschnittener Leib Erde, Kraterlandschaften. Straßen, auf denen sich tausende Autos quälen, ständig hupend. Menschen, winzig wie Ameisen, eilig streben, rennen.
Würde der Mensch die Erde verlassen, würde Frieden Auferstehung feiern. Und niemand wird ihn erleben.
Dazwischen fällt mir ein Wagen auf. Klein und blau.
"Leon? Leon! Hörst du mich?"
Aber wie soll er mich aus dieser Entfernung wahrnehmen?
Der Fluss. Unter mir sehe ich ihn deutlich. Er begleitet das blaue Auto ein kurzes Stück.
Dreckig braun schiebt er seine Fluten durch ein begradigtes Bett. Fort aus der pulsierenden Mitte der Stadt flüchtet er zum Stadtrand. Pharmariesen und stinkende Großindustrie rücken immer näher an ihn heran. Hier muss der Wasserwurm nochmals Dreck, Abwasser und Gifte schlucken. Getrübte Klarheit. Dann endlich hat er den Weg aus der Hölle gefunden.
Leichter Schwindel ergreift mich. Der Magen ist flau. Ich werde unruhig.
Endlich hat er Wiesen und Auen erreicht. Seine Farbe ändert sich. Wird heller. Goldene Blitze erscheinen jetzt öfters an der Wasseroberfläche. Sonnenstrahlen spielen Fangen mit winzigen Schaumkrönchen, die klare Wellen zieren. Hier bin ich, murmelt er glucksend. Alte Ufer zurückerobern!
Er erreicht die offene See durch ein Gewirr von Flüsschen und Bächen. Der Fluss der Zeit stürzt sich ins Meer.
Meine Beine sind eingeschlafen. Und auch wenn sich der Magen beruhigt hat, der Schwindel bleibt, ist hartnäckig.
Ich suche Leon.
Das blaue Auto und er sind verschwunden.
Wasser soweit das Auge reicht.
Das Meer liegt ruhig. Zu ruhig. Trügerisch.
Wind kommt auf.
Ich spüre eine plötzliche Schnelligkeit. Fliegend lege ich Jahre zurück in die Vergangenheit. Über Rostock, Kolberg, Lauenburg, Danzig.
Der Wind wird zum Sturm. Dann zum Orkan. Das Meer bäumt sich auf, die Wellen sind meterhoch und ich kann beobachten, wie Flüchtlingsschiffe versuchen, ihre Fahrtrichtung zu halten.
Ich komme so nah an sie heran, dass ich Menschen erkenne. Ausgehungert. Verstört. Panische Angst liegt über den hockenden, frierenden Flüchtlingen. Ihre wenigen Habseligkeiten haben sie in Säcke gepackt.
Meine Großmutter zieht meine Mutter ganz dicht an sich heran. Ich will rufen, schreien, ich bin jetzt bei euch, nichts kann euch passieren!
Plötzlich schrilles Sirenengeheul. Torpedoeinschläge. Explosionen. Das Schiff neben uns mit seiner gesamten menschlichen Fracht hat keine Chance.
Ich schrecke auf. Schweißgebadet. Setze mich gerade auf den Stuhl.
Nach zwei Minuten schrillt der Funkwecker nicht mehr, das Wasser ist auf dem Herd übergekocht. Ich hebe die Spritze vom Boden auf.
Vorsichtig fülle ich sie mit steifen Rahm. Aufgewühlt dekoriere ich damit Kuchen und Gebäck.
Leon!
Ich blicke aus dem Fenster.
Am Straßenrand steht ein blaues Auto.
jbs 2ooosechs
Meine Großeltern und Eltern erzählten oft von ihrer Flucht von Königsberg über das Kleine Haff nach Danzig. Sie gehörten zu den tausenden Flüchtlingen, die nicht auf der Wilhelm Gustloff Platz fanden, sondern auf eines der anderen Flüchtlingsschiffe, die nach Kiel übersetzten ... Am 30. Januar 1945 legte die Gustloff mit schätzungsweise 10.000 !!! Menschen an Bord in Gotenhafen ab. Sie wurde gegen 21 Uhr von mehreren Torpedos getroffen und sank. Über 9000!!! Menschen ertranken. Es dürfte die größte Schiffskatastrophe der Seefahrt sein ( bezogen auf ein Schiff).
Schwarze Flut
Langsam rutscht mir die Spritze aus der Hand. Den Aufprall auf kalten Fliesen nehme ich nicht wahr.
Der Wassertopf auf dem Herd brummt vor sich hin und die Funkuhr läuft still ihrer eingestellten Zeit entgegen.
Hektik, ständige Anspannung, Einengung, so nennen sich meine treuen Begleiter des Alltages. Aber jetzt kann ich endlich loslassen.
Aufatmen.
Schlafen.
Träumen.
Unsichtbare Kräfte zerren an mir, tragen mich hinaus durch das geschlossene Fenster Richtung Stadtmitte. Die rosa Wolke unter mir schmeckt nach Zuckerwatte. Und duftet nach Jahrmarkt. Ich drehe mich auf den Bauch und kann nun das Treiben unter mir genau beobachten.
Hochhäuser, Baulücken, aufgeschnittener Leib Erde, Kraterlandschaften. Straßen, auf denen sich tausende Autos quälen, ständig hupend. Menschen, winzig wie Ameisen, eilig streben, rennen.
Würde der Mensch die Erde verlassen, würde Frieden Auferstehung feiern. Und niemand wird ihn erleben.
Dazwischen fällt mir ein Wagen auf. Klein und blau.
"Leon? Leon! Hörst du mich?"
Aber wie soll er mich aus dieser Entfernung wahrnehmen?
Der Fluss. Unter mir sehe ich ihn deutlich. Er begleitet das blaue Auto ein kurzes Stück.
Dreckig braun schiebt er seine Fluten durch ein begradigtes Bett. Fort aus der pulsierenden Mitte der Stadt flüchtet er zum Stadtrand. Pharmariesen und stinkende Großindustrie rücken immer näher an ihn heran. Hier muss der Wasserwurm nochmals Dreck, Abwasser und Gifte schlucken. Getrübte Klarheit. Dann endlich hat er den Weg aus der Hölle gefunden.
Leichter Schwindel ergreift mich. Der Magen ist flau. Ich werde unruhig.
Endlich hat er Wiesen und Auen erreicht. Seine Farbe ändert sich. Wird heller. Goldene Blitze erscheinen jetzt öfters an der Wasseroberfläche. Sonnenstrahlen spielen Fangen mit winzigen Schaumkrönchen, die klare Wellen zieren. Hier bin ich, murmelt er glucksend. Alte Ufer zurückerobern!
Er erreicht die offene See durch ein Gewirr von Flüsschen und Bächen. Der Fluss der Zeit stürzt sich ins Meer.
Meine Beine sind eingeschlafen. Und auch wenn sich der Magen beruhigt hat, der Schwindel bleibt, ist hartnäckig.
Ich suche Leon.
Das blaue Auto und er sind verschwunden.
Wasser soweit das Auge reicht.
Das Meer liegt ruhig. Zu ruhig. Trügerisch.
Wind kommt auf.
Ich spüre eine plötzliche Schnelligkeit. Fliegend lege ich Jahre zurück in die Vergangenheit. Über Rostock, Kolberg, Lauenburg, Danzig.
Der Wind wird zum Sturm. Dann zum Orkan. Das Meer bäumt sich auf, die Wellen sind meterhoch und ich kann beobachten, wie Flüchtlingsschiffe versuchen, ihre Fahrtrichtung zu halten.
Ich komme so nah an sie heran, dass ich Menschen erkenne. Ausgehungert. Verstört. Panische Angst liegt über den hockenden, frierenden Flüchtlingen. Ihre wenigen Habseligkeiten haben sie in Säcke gepackt.
Meine Großmutter zieht meine Mutter ganz dicht an sich heran. Ich will rufen, schreien, ich bin jetzt bei euch, nichts kann euch passieren!
Plötzlich schrilles Sirenengeheul. Torpedoeinschläge. Explosionen. Das Schiff neben uns mit seiner gesamten menschlichen Fracht hat keine Chance.
Ich schrecke auf. Schweißgebadet. Setze mich gerade auf den Stuhl.
Nach zwei Minuten schrillt der Funkwecker nicht mehr, das Wasser ist auf dem Herd übergekocht. Ich hebe die Spritze vom Boden auf.
Vorsichtig fülle ich sie mit steifen Rahm. Aufgewühlt dekoriere ich damit Kuchen und Gebäck.
Leon!
Ich blicke aus dem Fenster.
Am Straßenrand steht ein blaues Auto.
jbs 2ooosechs
Meine Großeltern und Eltern erzählten oft von ihrer Flucht von Königsberg über das Kleine Haff nach Danzig. Sie gehörten zu den tausenden Flüchtlingen, die nicht auf der Wilhelm Gustloff Platz fanden, sondern auf eines der anderen Flüchtlingsschiffe, die nach Kiel übersetzten ... Am 30. Januar 1945 legte die Gustloff mit schätzungsweise 10.000 !!! Menschen an Bord in Gotenhafen ab. Sie wurde gegen 21 Uhr von mehreren Torpedos getroffen und sank. Über 9000!!! Menschen ertranken. Es dürfte die größte Schiffskatastrophe der Seefahrt sein ( bezogen auf ein Schiff).
lou-salome - 6. Jan, 22:43