Sie klammerte sich an Mörike.
Er fragte schon zum zweiten Mal: „ Emilie, hast du meine Brille verlegt?“
Ja - wohin nur, ging es ihr durch den Kopf.
Dann waren ihre Gedanken wieder bei Mörike, der schönen Lau und dem Blautopf.
In jungen Jahren, vielleicht mit acht oder neun Jahren, besuchte sie zum ersten mal den Blautopf. Es fiel ihr nicht schwer, die vielen bunten Bilder von damals aufzurufen. Der moderige Pilzgeruch über dem Quelltopf. Die alte Hammerschmiede, regelmäßig ihren Takt klopfend. Wie es anfing zu regnen und sie am Ufer stand. Dem Regen lauschend, wie er auf das Blätterdach des Waldes pochte. Zusah, wie er sich eine Lücke durch das Geäst suchte, um dann die Wasseroberfläche des Topfes zu berühren. Sie beobachte so lange die kreisenden Wellenbewegungen, bis sie so groß waren, wie der Blautopf selbst.
„ Emilie, hörst Du? Unter welchem Buchstapel ist meine Lesebrille beerdigt?“
Emilie schreckte auf.
Starrte auf ein bekanntes Gesicht. Aber wie war noch einmal sein Name?
„ Emilie, lass den Mörike los. Ich halte das nicht mehr aus! Ständig versteckst du dich hinter Büchern und Papieren. Überall finde ich Dinge, die woanders hingehören. Und nun fehlt meine Brille!“
Jacques verlor nicht so schnell die Geduld, aber - .
Schwarze Wolken türmten sich vor Emilies inneren Auge auf, sie duckte sich auf ihrem Stuhl. Umklammerte den Mörike immer fester.
Jacques Tonlage war anders als sonst.
Sie fühlte plötzlich seine kräftigen Hände auf ihren dünnen spitzen Schultern und spürte seinen Atem ganz nah. Sehr nah.
„Emilie. Was ist los mit dir? Ich suche meine Brille, die du vom Tisch weggelegt hast. Wohin?“
Emilie legte ihre Stirn in Falten, überlegte. Den Mörike ließ sie auf den Tisch fallen.
Brille? Ja, die Brille sitzt doch auf meiner Nase. Sonst könnte ich doch gar nicht lesen, ihre Gedanken liefen zick zack. Ein wirres Durcheinander hinter der Stirn. Im Labyrinth ihres Hirnes verlor sich die Frage in den Windungen.
Ein Miauen hinter der Balkontür unterbrach die Suche. Jacques ließ Emilies Schultern los, öffnete die Tür. Eine rot-getigerte Katze suchte Trockenheit vor dem Regen.
Schlüpfte in die Wohnung.
Jacques drehte sich zu Emilie um.
Sie saß nicht mehr auf ihrem Platz.
„Emilie? Emilie!“
Emilie stand am Kühlschrank, er konnte gerade noch sehen, wie sie blitzschnell ein Reclamheftchen in das Kühlfach legte, bevor sie die Tür zuschnappen ließ.
Die Rot-getigerte setzte sich auf Emilies warmen Stuhl und putzte sich.
„ Emilie, um Gottes Willen!“
„ Wie? Schreibst du an deinem letzten Willen?“ Es war seit dem Morgen das erste Mal, das Emilie laut sprach. Jacques erschrak fast, als ihre kratzige Stimme sein Ohr erreichte.
„ Verstehst du mich überhaupt? Ich – suche – meine – Brille!“
„ Ja, ja, ich kenne meine Grille.“
Jacques gab auf. So kam er mit ihr nicht weiter. Er suchte im Sekretär nach Stift und Papier, schrieb in großen Buchstaben auf das leere Weiß:
WO IST MEINE BRILLE ?
Diesen Zettel schob er Emilie unter die Nase, auf deren Spitze kleine Tropfen Nass balancierten, und gerade als sich ein Tropfen in Richtung Zettel bewegte, reagierte Emilie.
„ Ah. So. Deine Brille.“
Ihr Blick huschte über einen Bücherberg, weiter zu einem Stapel gelesener Märchen aus aller Welt, über diverse Reclamausgaben von E.T.A. Hoffmann, hin zu den gebundenen Werken von Heinrich Heine. Dort stoppte ihr Blick, nachdenklich. Langsam suchten ihre braunen Augen den Weg zurück zu den Märchen, blieben bei Eduard Mörike hängen.
Sie schnappte wieder nach Mörike, drückte ihn ganz fest an ihre schlaffe Brust. Auf ihrem Handrücken zeichnete sich dabei ein Delta blauer Adern ab, runzelige Erhebungen, Falten, Canyonlandschaften.
Emilie drehte Jacques den Rücken zu, hielt sich am Türrahmen der Küche fest, um dann schlurfend in Richtung Badezimmer zu ziehen. Dort setzte sie sich in die Dusche, kuschelte sich in eine Ecke. Hier würde sie niemand finden. Hier hätte sie ihre Ruhe. Mit der schönen Lau. Endlich!
Bevor er ihr ins Bad folgte, öffnete er in der Küche den Kühlschrank, zog das Gemüsefach auf. Das Reclamheftchen lag zwischen knackigen grünen Blättern, auf tiefroten Tomaten. Dazwischen stakte seine Brille, wie der Storch im Salat.
Jacques Atem stockte. Er fühlte sich hilflos.
Emilie, oh Emilie!
Durch die angelehnte Badezimmertür vernahm er kein Geräusch.
Nur der Regen, der trommelte leise ans Fenster.
„ Emilie?“
Er fand sie. Einen Moment lang schloss er entsetzt seine Augen.
Behutsam zog er sie danach aus der Dusche, trocknete ihre Hände.
Immer noch besetzte die Rot - getigerte Emilies Stuhl im Wohnzimmer, mittlerweile schnurrend. Jacques zog einen Zweiten heran, drückte Emilie auf das weiche Polster und schob sie vor die Balkontür.
Eine schwarze Amsel saß auf dem Balkongeländer, schwatzte und spielte mit den Wassertropfen.
Platschend fand das Nass auf dem Boden eine Pfütze, verursachte Ringe, die immer größer wurden, bis sie so groß waren wie die Wasserlache selbst.
Mörike lag still an Emilies Brust.
jbs 2009
lou-salome - 10. Mär, 23:13